Datum: 23.05.2010
Ressort: Kultur
Autor: Matthias Bischoff

Babys heiraten Babys

Ein bewegender Abend: Das Staatstheater Darmstadt zeigt David Spencers Stück „Raum (Space)“.

Eine überdimensionale Baby-Strampeldecke in Form eines Hündchens liegt auf der Bühne der Kammerspiele im Staatstheater Darmstadt. Sie ist aus Patchwork und steht für das zusammengeflickte und chaotische Leben all derer, die auf der Decke und dem Sitzsackberg des Hundekopfs herumkrabbeln wie Kleinkinder, die nicht erwachsen werden können.

Beziehungen, Familie, soziale Zusammenhänge – all dies ist Patchwork im Leben von Dean (Stefan Schuster) und Pam (Diana Wolf), die zu Beginn des Stücks im glückseligen Stadium der ersten Verliebtheit sind. Es ist eine Liebe, von der man schnell ahnt, dass sie den Herausforderungen des Alltags kaum wird standhalten können. Denn Dean und Pam zählen zu jenen Menschen, die man aus den Doku-Soaps des Privatfernsehens kennt. Aber ihnen helfen keine Super-Nanny und kein Schuldenberater, sie müssen selbst sehen, wie sie mit dem staatlich alimentierten Leben knapp oberhalb des Existenzminimums zurechtkommen.

Aufführung Staatstheater Darmstadt

Bild: (c) Barbara Aumüller (FAZ)

Schlechte Voraussetzungen für ein Happy-End

Die Voraussetzungen für ein Happy-End sind denkbar schlecht. Pam hat aus einer früheren Beziehung den kleinen Gillian (Margit Schulte-Tigges spielt ihn mit beeindruckend authentischer Kindlichkeit), der sich nach einem Ersatzvater sehnt, seit sein leiblicher Vater Mike wegen Körperverletzung im Gefängnis ist. Der arbeitslose Dean, der auch schon Bekanntschaft mit dem Justizvollzug gemacht hat, schafft es mit seiner Obsession für Weltall und Himmelskörper schnell, den Jungen für sich einzunehmen.

Doch während die Beziehung zwischen den beiden immer intensiver wird, brechen die Konflikte zwischen Pam und Dean an den vorhersehbaren Sollbruchstellen auf. Mal ist es Eifersucht auf den Ex, mal sind es Geldsorgen, immer wieder sorgen auch die traurigen Nicht-Beziehungen zu den eigenen Eltern und die Traumata aus beider unglücklicher Kindheit für Streit und Zerrüttung. Deans hilflose Versuche, die manisch-depressive Pam davon zu überzeugen, alles werde gut, wenn sie nur endlich heirateten, scheitern selbst dann, als ein zweites gemeinsames Baby auf der Welt ist.

“Erwachsen wird hier niemand, manche kriegen halt ’nen Job.”

Der britische Dramatiker David Spencer hat “Raum (Space)” bereits Ende der achtziger Jahre geschrieben. Die von Martin Ratzinger einfühlsam inszenierte deutsche Erstaufführung fällt in eine Zeit, in der das Bewusstsein für die Chancenlosigkeit des sogenannten Prekariats auch in Deutschland gewachsen ist. Spencers Stück entreißt das darin um ein besseres Leben kämpfende Paar dem Verwertungs- und Entblößungszugriff der Boulevardmedien und gibt den Menschen hinter dem Klischee ihre Würde zurück. Dabei gelingt es ihm, das unheilvolle Zusammenwirken ökonomischer, sozialpsychologischer und individueller Bedingungen sichtbar zu machen.

Zur zentralen Metapher, die sich im Bühnenbild und in der Kleidung der Hauptfiguren (Micky-Maus-Shirt, Snoopy-Aufnäher auf den Jeans) manifestiert, wird die Unreife der Menschen. “Hier in der Siedlung heiraten Babys Babys, dann können sie noch mehr Babys haben”, erkennt Dean seine eigene Lage und umschreibt das Dilemma:”Erwachsen wird hier niemand, manche kriegen halt ’nen Job.” Diese Erkenntnis ist immerhin ein Anfang, und so ertappt man sich am Ende dieses gewiss nicht großen, aber bewegenden Theaterabends dabei, wie man dem Paar trotz all der Hoffnungslosigkeit ihres letzten, womöglich zur endgültigen Trennung führenden Streits die Daumen drückt, dass sie es doch noch schaffen, den Teufelskreis der Patchworkexistenz zu durchbrechen und ihre Liebe in einen erträglichen Familienalltag zu retten.